Presse Archiv : Süddeutsche Zeitung 10. 7. 1996


DJ Kalle Laar holt bei seinen Nacht- Festen im Lenbachhaus vergessene Klänge in die Gegenwart

Der Wind trägt ein Lied aus der Südsee in die Nacht. Verführerisch schmeichelt es sich in die Ohren, streichelt hier sanft ein Herz, kitzelt dort keck die Phantasie und verpufft dann wieder, weiß der Himmel wo. Als Kinder fragten wir uns immer, wo sie wohl hingehen, die Lieder. Fangen die Engel sie ein? Werden Klang-wolken daraus? Oder hallen sie auf ewig in den Sphären nach? Aufhalten jedenfalls konnte man die Töne nie, auch nicht mit der Hand danach grapschen (wie das die kleine Schwester einst versuchte) oder sie sonstwie erhaschen. Manchmal, immerhin, lassen sie eine leise Melodie zurück. Oder, wie in dieser Nacht, einen exotischen Sommernachtstraum. Türkisblau schimmert der Pazifik vor unseren Augen. Unter Palmen räkeln sich knapp bekleidete Hawaiianer und blumenbekränzte Strandschönheiten. Ein Bild der Freude, aloa-he!

Es sind dann aber doch nur die üblichen Münchner Szenegänger, die im Garten vor dem Lenbachhaus ihre Caipirinhas schlürfen. Und die Temperatur ist auch viel zu deutsch für eine heiße Insel-Nacht - weshalb sich der Engel am Plätscherbrunnen als einziger einer gewissen Nacktheit erfreut. Kalle Laar, der Freiluft-DJ, hat wegen akuten Schnupfens sogar einen Winterschal um den Hals gewickelt. Und trotzdem flackern immer wieder die schönsten Südseeträume durch den Museums-Garten.

Es ist nicht die Pina Colada, es ist die Musik, die sie weckt. Die Musik ferner Inseln und ozeanischer Sehnsüehte. Freche Calypsos erzählen Nachrichten aus Trinidad, und die Sterne am Nachthimmel tanzen Hula zu den Saitensprüngen wildgewordener Hawaii-Gitarristen. Die fremdartigsten Melodien behaupten ein paar Minuten lang ihre Existenz. Schräge, ungehörte Klänge. Lieder auf Platten. die keiner kennt. Ihnen hat Kalle Laar diese Nacht gewidmet - eine "Nacht der verlorenen Musik".

Daß Musik ephemer ist und schnell Gefahr läuft, verloren zu gehen, ist für die meisten Menschen - außer den Kindern vielleicht - kein großes Problem. Es gibt doch Schallplatten, werden sie sagen. Es gibt CDs und den Repeat-Knopf am dazugehörigen Player. All das weiß Kalle Laar natürlich auch. Vielleicht sogar besser als andere, weil er ein professioneller Komponist und Musiker ist, einer der bekanntesten Improvisationsmusiker Deutschlands sogar. Eben weil sich der Münchner sehr gut auskennt mit der Entwicklung der modernen Tonwiedergabe, weiß er aber auch um die Gefahr, die im Zeitalter der Compact Disc droht: "Die Schallplatte ist am Verschwinden, und mit ihr verschwindet auch ein Teil der Geschichte unserer Populärkultur."

Stimmt schon: Mit entlegenen Schellack- und Vinylscheiben ist es wie mit seltenen Tierarten - sie sind vom Aussterben bedroht. Viele Platten aus diesem Jahrhundert werden niemals auf CD reproduziert, weil sie nicht der Massenkultur entsprechen. "Entweder", sagt Laar, "sie landen bei irgendwelchen Sammlern, oder sie werden schlicht und einfach weggeworfen." Es ist diese Musik, die keiner mehr will, für die der vierzigjährige Münchner sich einsetzt. Rare, schrullige Musik. Musik, die Kle Laar "merk-würdig" nennt - im doppelten Sinn des Wortes. Er hat viel davon gesammelt. 3000 Platten umfaßt seine Raritätenkollektion mit Varia und Kuriosa aus aller Welt. In seinen "Nächten der verlorenen Musik" läßt er sie wieder erklingen: die Lieder. die die Welt nicht mehr braucht.

Es sind Nächte gegen das Vergessen. Nächte mit einem ernsthaften Anliegen: dem eines "Temporären Klangmuseums". Deshalb legt DJ Laar nicht einfach nur drauflos, sondern sucht sich jeweils ein Motto aus und stellt dazu, wie jeder richtige Museumsleiter, Infos auf Lesetafeln aus. War es neulich die Insel-Musik, der er im Lenbachhaus-Garten einen Abend schenkte, gab es ein paar Wochen zuvor eine "Japan-Nacht" im Café des Museums. Bizarre Kompositionen aus Nippon schallten da vom Plattenteller, nie gehörter Japan-Pop und kurios verfremdete Volkslieder. Dazu flimmerten Godzilla-Filme über zwei Bildschirme, an der Bar gab es Sushi und an der Wand die schrägsten LP-Cover in Dia-Form.

Das hört sich jetzt wahrscheinlich stark nach Museums-Fete an. Zumal es im Moment ja richtig in ist, Ausstellungshäuser für Parties zu öffnen. Doch gegen den Vergleich mit dem Haus der Kunst, wo man vor berühmten Gemälden lange Techno-Nächte feiert, wehrt sich Lenbachhaus-Chef Helmut Friedel vehement. "Wir machen bewußt kein Spektakel", sagt der Museumsleiter, der es nicht gerne hat, "wenn Bildende Kunst zur Dekoration von events wird". Die "Nächte der verlorenen Musik" seien da wesentlich intimer (mehr als 200 Leute werden nicht zugelassen) und hätten auch einen viel seriöseren Anspruch.

Kalle Laar will auch gar nicht den "Sehnellschuß" oder "just another party in the town". Dafür ist er ein viel zu intellektueller Mensch. Und viel mehr Musiker als DJ. Der ernste Mann lettischer Herkunft gehört zu der Berliner Band ThoThmann Anlagen und bildet mit dem japanischen Percussionisten Takashi Kazamaki ein Improvisations-Duo, das sich in der internationalen Avantgardeszene längst einen Namen gemacht hat (bald erscheint in New York die dritte CD).

Außerdem ist Kalle Laar studierter Historiker. Und als solcher weiß er sehr gut, wie wichtig es ist, Dinge zu bewahren, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Musik kann man nicht ins Museum stellen, aber man kann sie in Erinnerung rufen. Am Donnerstag öffnet der Konservater sein Klangmuseum wieder für eine Nacht (ab 21 Uhr). Seltsame Sprach- und Geräuschplatten will er diesmal spielen, und die Klänge über mehrere Boxen im Garten verteilen. Damit sie uns flüstern können, daß es sie gibt.
Christine Dössel